Erinnern Sie sich noch? – Die blaue Stunde

Die blaue Stunde

Wer kennt sie noch,
diese besondere Stunde zwischen der vergehenden Helligkeit des Tages und der einbrechenden Dunkelheit? Wenn der Himmel in allen rot und orangenen, gelben und grauen Farben erstrahlt. Die Sonne wurde dann zu einem roten Ball und ihre Strahlen waren, auch nach ihrem Untergang, am Horizont noch sichtbar.

Das war die Zeit, da das Kind sich an die Großmutter schmiegen durfte. Sie lauschten ihren Herztönen und hörten im Winter den Summen des Kachelofens zu. Manchmal erzählte die Großmutter aus ihre Kindheit, wie sie schon früh Schreibmaschineschreiben und Stenographie lernen durfte. Konnte man noch Kochen und Nähen, wäre es möglich, eine Familie zu ernähren.

Das Kind würde sich an diese Gespräche noch oft erinnern. Anfangs hatte die Großmutter versucht Märchen zu erzählen. Das Kind bekam dabei Angst und las auch später keine Märchenbücher.

Der Zauber der blauen Stunde erlosch, wenn die Großmutter sich erhob, ihre Trägerschürze glatt strich und das Licht anschaltete. Der Zauber erlosch auch, weil dem Kind erklärt wurde, dass man bis zum Einbruch der Dunkelheit nur Strom sparen wollte.

Die Großmutter lernte dem Kind Puppenkleider zu häkeln und Topflappen zu stricken. Das Kind lernte schnell. Oft nahm der Großvater das Kind mit zur Chefvilla am Taurastein. Während er dort Reparaturen im Haus ausführte, unterhielt sich die Frau des Chefs mit dem Kind. Sie lernte ihm ,wie man eine gute Konversation führte , dabei gerade auf dem Stuhl saß und sich niemals anlehnen durfte. Seit dem Kohlrabiattentat begegneten die Menschen den Großvater mit einer zurückhaltenden Ehrfurcht. Er hatte sich Respekt verschafft . Er und das Kind hatten ein Stück ihres Lebens zurückbekommen, aber es war
ein anderes Leben.

Das Kind liebte Musik und lernte Flöte zu spielen. In der Kirchgemeinde bekam es die Möglichkeit dazu. Öffentliche Auftritte lehne es nie ab und die Lehrer waren darüber glücklich, denn Kultur war erwünscht. Nur die Pionierkleidung fehlte dabei.

Annette Richter

aus ihrem Buch “Mit 7 Dollar in New York”

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