Erinnern Sie sich noch? – Als die Pferde nicht mehr kamen

Als die Pferde nicht mehr kamen

So lange sie denken konnte, war ihr Leben mit einem besonderen Geräusch verbunden gewesen. Es war der Klang des näher kommenden und sich wieder entfernenden Getrappel der Pferde. Auch der hölzerne Kastenwagen, den sie zogen, klapperte dazu. Es gab keinen Takt, denn die Straße war ungepflastert und sehr holprig. Für Straßenbelag hatte das Geld nach Fertigstellung der kleinen Siedlungshäuser nicht mehr gereicht. Hatte es geregnet, konnte man herrlich barfuß in den Pfützen
spielen. Für das Federballspiel eignete sich die Straße gerade noch so. Kam das Pferdefuhrwerk, gingen alle ehrfurchtsvoll zur Seite und staunten. Sie staunten nicht nur über die Pferde, sondern ganz
besonders über den Kutscher. Wahrscheinlich konnten nur die Pferde seine Sprache verstehen, denn für die Dorfbewohner war eine Unterhaltung mit ihm nur sehr schwer möglich.

Angestellt war Bruno, so hieß der Kutscher, bei der Firma „Max Dittrich“ Brennstoff und Fuhrbetrieb in Taura. Es muss um das Jahr 1961 gewesen sein, als er dort seine Arbeit aufnahm.In den zweiten Weltkrieg war er als gesunder Mann gezogen, aber taub zurückgekehrt.

Seine Augen waren die Verbindung zur Welt, und so hatte er sich, als einzigen Luxus, ein Fernsehgerät zugelegt. Wie so viele Menschen musste auch er immer wieder die Antenne nach Westen ausrichten. Keine einfache Sache, wenn die Zurufe zwecks eines guten Bildes nicht zu hören waren. Manchmal war Bruno auch sehr eigenwillig. Manche Speisen aß er nicht. So kam es, dass er eines Tages wütend die Küche der Firma verließ und aufs Dach kletterte, weil er Kartoffeln und Quark auf keinen Fall essen wollte.

Es geschah im Jahr 1969. Man hatte Bruno nicht gleich vermisst, aber ein seltsames, dumpfes Geräusch gehört. Es war entsetzlich. Bruno war vom Dach gestürzt. Er war tot. Die Pferde hätten eine neue Sprache erlernen müssen, und so wurden die Brikett danach mit einem großen LKW angeliefert. Die Straße blieb weiterhin ungepflastert. Für das inzwischen 15 jährige Mädchen hatte sie aber an Faszination und Leben verloren und der Ort einen ganz besonderen Menschen.

Burgstädt, 12.8.2022

Annette Richter

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