Martha
Man schreibt das Jahr 1928. So beginnen die Erzählungen bei den Familienfeiern. Das kleine Mädchen hört begeistert zu. Der Großvater berichtet von der großen Ausreisewelle in die USA , von arbeitslosen Menschen und der großen Liebe seiner Schwägerin Martha. Sie war die jüngste Schwester seiner Frau und er war ihr Vormund. Der Vater, eine Färbermeister, war früh verstorben. Die Färberei hatte man verkaufen müssen. Nur kleine, aber feine Dinge waren der Familie geblieben. Ein chinesisches Teeservice. Es wird immer noch zu festlichen Anlässen benutzt.
Martha passte nicht zu diesem Service, der Kleinstadt und den alten Traditionen. Sie trug kurze Röcke, schulterfreie Blusen und hatte sich einen Bubikopf schneiden lassen. Sie war Stadtgespräch.
Sie war noch keine 18 Jahre alt und doch schon sehr verliebt. Ihrem Walter, so hieß ihr Liebster, ging es ebenso. In einem großen Schreibmaschinenbetrieb hatte er schon einige Jahre Geld verdient. Doch die Aufträge blieben aus und die Zeit der Arbeitslosigkeit begann. In den USA solle es Arbeit geben. Er glaubte daran. Er konnte kein Wort englisch und kaufte trotzdem ein Ticket zur Überfahrt nach New York. Drei Wochen würde die Reise dauern und auch dann würde es noch einige Zeit dauern, bis Martha ein Lebenszeichen von ihm erhalten könnte. Sie war verzweifelt. In einem Jahr würde sie ihr 18. Lebensjahr vollenden und ihr Walter wollte Geld für die Überfahrt auf der „Bremen“ schicken. Sollte ihr Vormund der Reise nicht zustimmen, waren weitere 3 Jahre Wartezeit angesagt. Mit 21 Jahren war man damals erst volljährig. Es war eine schwere Entscheidung. Ein junges Mädchen in eine weit entfernte Welt zu schicken schien ein großes Risiko zu sein.
Das Geld kam pünktlich und es kam der Tag, an dem alle zur Verabschiedung am Bahnhof standen.
Doch was war das? Der Zug fuhr ein, aber Martha sträubte sich plötzlich mit Händen und Füßen in den Zug zu steigen. Großvater packte sie am ganzen Körper und hob sie in den Zug, die Koffer hinterher. Als der Zug abfuhr, sagte keiner ein Wort.
Viele Jahre später wusste alle, dass der Großvater richtig entschieden hatte.
Martha und Walter hatten geheiratet und einen Sohn bekommen. Martha arbeitete täglich 16 Stunden. Sie war Verkäuferin in zwei verschiedenen Kaufhäusern und mit ihrer flotten Art sehr beliebt.
Die englische Sprache hatte sie schnell gelernt. Schreiben konnte sie diese auch im hohen Alter noch nicht. Das war ihr auch nicht wichtig. Auch mit 80 Jahren trug sie noch Bubikopf und kurze Shorts. Das kleine Mädchen hatte sich gewünscht, wie Tante Martha zu werden, doch den Mut im Ausland zu leben, hat sie nie aufbringen können.
Meissen, 10. 11. 2023
Annette Richter